Adventskalender – 23.12.2015 – Kurzgeschichte

Herr Theobald hat etwas vergessen

PlätzchenHerr Theobald saß auf seinem roten Sofa und schaute zufrieden auf den Tisch davor. Dort stand eine Tasse Kaffee, die vor sich hin dampfte. Daneben lag ein kleiner Haufen mit verpackten Geschenken. Und daneben lag seine Liste. Darauf hatte der er alles aufgeschrieben, was er alles vor Weihnachten erledigen musste. Jeden einzelnen Punkt hatte Herr Theobald zuerst abgehakt und dann noch – zur Sicherheit – rot durchgestrichen. Krippe aufstellen, Tannenbaum besorgen, Geschenke kaufen (und basteln), Weihnachtspost schreiben, Treppenhaus wischen, Essen einkaufen, Plätzchen backen und so weiter und so weiter. Es war tatsächlich alles abgehakt und er hatte einen guten Grund, zufrieden zu sein.

Etwas später – in der Kaffeetasse war nur noch ein kleiner Schluck – schaute er zur Sicherheit nochmal auf seine Liste. „Nein, alles in Ordnung! Alles abgehakt.“ dachte Herr Theobald bei sich. Er wollte sich gerade wieder in seinem Sofa zurück lehnen, da kam dieser Gedanke erneut. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas musste er noch tun. Er war sich sicher: Er hatte etwas auf seiner Liste vergessen. In Gedanken ging er noch einmal die letzten Tage und Stunden durch. Alles war genau geplant gewesen, bis er am 23.12. um 16:20 Uhr auf seinem roten Sofa Kaffee trinken würde.

PlätzchenAngestrengt dachte er nach. Geschenke, Post, Baum, Krippe, Essen, Treppenhaus. Alles da. Seltsam.

Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Herr Theobald ins Bett. Aber er konnte nicht einschlafen. Immerzu musste er an seine Liste denken und wälzte sich auf dem Kissen hin und her. Auch am nächsten Morgen war dieser Gedanke noch da. Er lief durch die ganze Wohnung. Dann Treppe runter – in den Keller. Nichts. Briefkasten gucken – nur Reklame. Rauf in die Wohnung – Treppenhaus ok. Nichts zu finden. Im Kühlschrank – alles an seinem Platz. Auf dem Tisch der Teller mit den Plätzchen. Herrn Theobalds Puls ging immer schneller. Er wischte sich ein paar Schweißtropfen von seiner Stirn. Seine Knie wurden weich und plötzlich – klingelte es an der Wohnungstür. Amelie, seine kleine Nichte, die nur ein paar Häuser weiter weg wohnte, stand vor der Tür, als Herr Theobald diese mit zitternder Hand öffnete. „Hallo, Onkel Herman!“ sagte Amelie und marschierte, ohne sich lange aufzuhalten, an Herrn Theobald vorbei und setzte sich auf das rote Sofa im Wohnzimmer.

Bevor er etwas sagen konnte, griff Amelie in den Beutel, den sie dabei hatte, und holte ein Schulheft heraus. „Setzt dich! Jetzt kommt eine Geschichte!“ sagte Amelie. Und Herr Theobald setzt sich, obwohl er viel lieber noch einmal seine Liste kontrolliert hätte. Er durfte einfach nichts vergessen haben. Und heute war schon der Heilige Abend. Und dann begann Amelie, die Geschichte vorzulesen. Es war die Geschichte von Maria und Josef, die auf dem Weg nach Bethlehem waren, – so wie ein Kind in der vierte Klasse sie aufschreibt. Weil Amelie Tiere so gerne mochte, kamen in der Geschichte auch Pferde, Hunde und Katzen vor, von denen man sonst nichts hört. Vor der Herberge eines Wirts döste ein Hahn. Im Stall standen nicht nur Ochse und Esel, sondern es gab auch ein paar Mäuse, eine alte Eule und ein paar Spatzen und draußen auf einem Baum saß ein Eichhörnchen. Auf der Wiese bei den Hirten gab es neben Schafen und Hunden auch noch ein paar Feldhasen. Und als sich die Hirten auf den Weg zum Stall machten, trottet ein kleiner Igel hinterher. Herr Theobald hörte immer genauer zu. Und als die Hirten an der Krippe ankamen, da wusste er plötzlich, was er vergessen hatte: Weihnachten. Er hatte Weihnachten vergessen. Er hatte vor lauter Plänen und Listen und Abhaken vergessen, was das Wesentliche an Weihnachten war.

Als Amelie fertig war, drückte er sie fest. „Das hast Du sehr schön geschrieben. Komm lass uns zu Deinen Eltern rüber gehen. Bald kommt das Christkind.“ Sie gingen die Treppe hinunter und, als sie aus dem Haus kamen, sagte Herr Theobald: „Moment! Ich muss noch eine letzte Sache erledigen!“ Er lief ein paar Schritte in den Hof und warf seine Liste in die Papiermülltonne. „Können wir jetzt?“ rief Amelie. „Jetzt können wir.“ sagte ihr Onkel, hakte sie unter und die beiden stapften hinaus auf die Straße.

© 2015 mb
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